II 16. Was verstehen Sie unter den im Papier verwendeten Begriffen der "Sozialunion" bzw. der "sozialen Fortschrittsklausel" und wie beurteilen Sie die im Papier geforderte Stärkung der EU als Sozialunion?

Europapolitische Strategie des Freistaats Thüringen

Entwurf vom 10. März 2016
Eingebracht durch Landesregierung
Federführender Ausschuss Ausschuss für Europa, Kultur und Medien
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Die Diskussion ist seit dem 13.09.2016 archiviert

Zurzeit befindet sich die Unterrichtung durch die Landesregierung nach Art. 67 Abs. 4 LV i. V. m. § 54 a GO zur Europapolitischen Strategie des Freistaats Thüringen vom 10. März 2016 (Vorlage 6/1080) in der parlamentarischen Diskussion. Nachfolgend finden Sie die Fragen, mit denen sich der Ausschuss für Europa, Kultur und Medien derzeit befasst. Sie können Ihre Meinung zu den Fragen abgeben. Mit Ihren Beiträgen, Ihren Erläuterungen oder Ihrer Kritik können Sie Einfluss auf die Arbeit des Ausschusses für Europa, Kultur und Medien nehmen.

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II 16. Was verstehen Sie unter den im Papier verwendeten Begriffen der "Sozialunion" bzw. der "sozialen Fortschrittsklausel" und wie beurteilen Sie die im Papier geforderte Stärkung der EU als Sozialunion?

16. Was verstehen Sie unter den im Papier verwendeten Begriffen der "Sozialunion" bzw. der "sozialen Fortschrittsklausel" und wie beurteilen Sie die im Papier geforderte Stärkung der EU als Sozialunion?

11. August 2016 | Dr. Stefan Pilz
Sozialunion im Staatenverbund nicht absehbar

Eine „Sozialunion“ ist eine Institutionalisierung der sozialen Dimension der Europäischen Union. Sie konkretisiert die wertenden Merkmale des Wertekatalogs (Art. 2 EUV), allen voran „Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „Nichtdiskriminierung“. Der anvisierte Ausbau sozialer Rechte, etwa durch gemeinsame Mindestlohnstandards und Mindeststandards bei der sozialen Grundsicherung, erfolgt in einer Sozialunion nicht allein anhand politischer Handlungsgebote, sondern durch gemeinsame verbindliche Kompetenztitel.

Ein Ausbau der sozialen Dimension der Union ist gewiss ein hehres Ziel, doch sind die im Rahmen der Aussprache der Regierungserklärung deutlich gewordenen Vorstellungen über die Konturen einer Sozialunion zu ambitioniert. Der Versuch, europäische Sozialpolitik von jetzt auf gleich als „zentrales Handlungsfeld europäischer Politik“ zu etablieren und „Europa als Sozialstaat“ (Prof. Hoff) zu skizzieren, verkennt die gegenwärtige verfassungs- und europarechtliche Wirklichkeit. Um „die Lebensverhältnisse in den Ländern auf einem hohen Niveau an[zu]gleichen“ (Kubitzki, Mdl v. 17.3.2016), ist in den europäischen Verträgen nicht vorgesehen. Lediglich über die Förderung aus den Kohäsionsfonds der Union kann allenfalls das Ziel, „vergleichbare Lebensverhältnisse“ herzustellen, die sich im Grundsätzlichen gleichen, verfolgt werden.

Aus deutscher Perspektive setzt zuvörderst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Errichtung eines „europäischen Sozialstaats“ (i.S. einer „echten“ Sozialunion) enge Grenzen. So heißt es in der Lissabon-Entscheidung: „Das Sozialstaatsprinzip begründet die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. [...] Der Staat hat lediglich die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen. [...] Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine soziale Integration oder eine "Sozialunion" sind deutlich begrenzt. [...] Danach müssen die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden. Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen, eine nicht nur im Sozialstaatsprinzip, sondern auch in Art. 1 Abs. 1 GG gegründete Staatsaufgabe, muss weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben, auch wenn Koordinierung bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen ist. Dies korrespondiert mit den rechtlich wie faktisch begrenzten Möglichkeiten der Europäischen Union zur Ausformung sozialstaatlicher Strukturen.“

Sozialpolitik als Summe der Bemühungen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger durch öffentliche Maßnahmen zu verbessern, ist Bestandteil der Maßnahmen der Union zur Schaffung des Binnenmarktes und darüber hinaus einer allgemeinpolitisch ausgerichteten EU. Gleichzeitig muss die europäische Sozialpolitik den Unterschieden zwischen den Sozialordnungen der Mitgliedstaaten Rechnung tragen, die nicht durch europäische Harmonisierung des nationalen Sozialrechts aufgehoben werden können. Trotz wichtiger Integrationsfortschritte ist eine umfassende „Sozialunion“ daher nicht absehbar.

Ein Überblick über die sozialpolitischen Kompetenzen der Union (exemplarisch Art. 153, 162-164 AEUV und Titel IV („Solidarität“) der Grundrechtecharte unterstreicht den Befund, dass die Sozialpolitik im Kern eine nationale Angelegenheit ist. Bis heute differenzieren Löhne und Beschäftigungsbedingungen ebenso stark, wie der Umgang der Sozialpartner miteinander. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Einigung auf gemeinsame Mindestlohnstandards und Standards bei der sozialen Grundsicherung kaum realisierbar. Abgesehen von einigen Maßnahmen der Rechtsangleichung im Bereich des Arbeitsrechts sind es vor allem die Wettbewerbspolitik, die Grundfreiheiten und die Unionsbürgerschaft, die die insoweit primär verantwortliche nationale Sozialpolitik beeinflussen und in ihren Möglichkeiten begrenzen. Die EU selbst betreibt darüber hinaus Sozialpolitik über den Einsatz ihrer Fonds. Im Übrigen bleibt die vielfach realisierte Hoffnung, dass die mit der europäischen Integration verbundene Marktöffnung insgesamt zu einer deutlichen Steigerung des Lebensniveaus führt. So wird sich der soziale Aspekt der von Art. 3 Abs. 3 EUV proklamierten „sozialen Marktwirtschaft“ eher über soziale Elemente des Binnenmarktes als über eine europäische Sozialunion entfalten.

Eine Verbesserung der Lebenschancen der Bürgerinnen und Bürger versucht die Union zudem durch Förderung der territorialen Kohäsion zu erreichen. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2007 die Arbeitsgruppe „Territoriale Agenda der EU“ eingesetzt. Um die territorialen Besonderheiten und geographischen Chancen in den Regionen Europas besser zu nutzen, sollen über die Kohäsionsförderung Entwicklungsprozesse angeschoben und Verwerfungen und belastende Unterschiede abgefedert werden. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei der Unterstützung lediglich um Maßnahmen handeln kann, die Entwicklungspotenziale freilegen und einen Mindeststandard im Sinne von vergleichbaren Lebensverhältnissen erzeugen sollen. Die Hauptverantwortung für das Soziale trifft auch an dieser Stelle die Mitgliedstaten, die nach ihrer Leistungskraft den Sozialstaat verwirklichen. Der angestrebte sozialstaatliche Mindeststandard soll keine substanzielle Gleichheit oder gar Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Union schaffen, sondern eine elementare Grundhomogenität in den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen sicherstellen. Das Unionsrecht entspricht sozialen Grundsätzen, wenn es dazu beiträgt, dass alle Unionsbürger an den kulturellen, ökonomischen und rechtlichen Standards des jeweiligen Staates teilhaben. Ein Anspruch auf Gleichförmigkeit der sozialen Verhältnisse und damit auf Umverteilung innerhalb der Union, der schon vom bundesstaatlichen Auftrag der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (Art. 72 GG) nicht umfasst ist, folgt hieraus nicht.